Frei und Geheim?
Nach dem württembergischen Wahlrecht können die Bürger beim Wählen in eine freie Zeile einen Wunschkandidaten aufschreiben. Nach einer heftigen Werbekampagne in sozialen Netzwerken haben 32 Prozent der Wähler in Nürtingen „Claudia Grau, Bürgermeisterin“ auf den Wahlzettel geschrieben. Ihr Chef, der OB Heirich wurde mit 49,6 Prozent gewählt. Er vermutete darauf die Umtriebe von Leuten „aus der links-alternativen Ecke. Die Internetaktion erschien ihm undemokratisch und höchst befremdlich. Es geht wohl nicht nur mir so, dass man bei einer so großen Opposition mehr vermutet als Kommunismus. Sucht man Genaueres, erfährt man, dass ganzseitige Anzeigen verschiedener Interessengruppen geschaltet wurden mit dem Text: „Stimmen Sie nicht für Grau!“. Solche Apelle sind ja bekannt für gegenteilige Wirkungen. Das Internet erscheint mir unter diesen Umständen eher als eine Begleiterscheinung, denn als Ursache. Es werden kaum 32 Prozent einer Wählerschaft mit Internetangeboten erreicht. Und es braucht schon Wut oder Verzweiflung, dass es einen solchen Schub gibt. Es gab fast alle Jahre in Baden-Württemberg solche „Umstürze“ – auch ohne Internet.
Frau Grau hatte sich im ersten Wahlgang beworben und gerade sechs Prozent erhalten. Sie hatte mit einer Mehrheit gerechnet und zog sich nun zurück, weil sie Schwierigkeiten im weiteren Umgang mit ihrem Chef, dem OB auf sich zukommen sah. Damit ist etwas problematisiert, was auch in Reichenhall zum Tragen kommt. Viele Wähler wünschen sich als OB eine Person, die mit den lokalen Verhältnissen vertraut ist. Eine so vernetzte Person stellt sich dem Risiko eher nicht. Die Freien Wähler haben einen Kandidaten importiert. Für die Piraten müssen sogar 180 Personen den Mut haben, im Rathaus sich durch Unterschrift zur Opposition zu bekennen, die Sparkassenangestellte tut’s wohl nicht. Piraten werden sich dabei auf die Unabhängigkeit ganz junger Wähler und alternativer Kreise konzentrieren müssen. Frei und geheim gilt jedenfalls nicht für alle Kandidaten.
(Leserbrief Reichenhaller Tagblatt 29.10.11)
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